Walking in Remscheid #6 – Innenstadt

Aquarellbearbeitung der Waldstraße, Blick nach Westen (26. Dezember 2020)

Die Route

Die erlaufenen Straßen

Eindrücke entlang des Weges.

Fünf Mal habe ich mich aufgemacht, Remscheids versteckte und nicht so versteckte Straßen zu erlaufen. Fünf Mal ging es für mich in Gefilde außerhalb meiner Erinnerungsreichweite. Die Nummer sechs sollte dann aber endlich dem Leitmotiv folgen: „Getz gehse aba ma endlich inne Dauntaun vonne Seestadt aufn Berch!“

„Ho!Ho!Ho! Frrrrrrröööööööööhliche Weihnachten!“
Der 26.12.2020, der zweite von in diesem Jahr drei Weihnachtsfeiertagen, den Sonntag mitgerechnet, war zum Abtrainieren des kunstvoll angesoffenen und angefressenen Bauches verplant. Walking in Remscheid hatte inzwischen so viel schönes Feedback erfahren, da will ich mich doch nicht lumpen lassen! Jedoch: die verkackte Coronapandemie hatte auch dieses Projekt erreicht. Nicht etwa, weil ich mich infiziert hätte, soweit ist es zum Glück noch nicht gekommen; aber: Walking in Remscheid war als Zusammenführungsprojekt gedacht, als Treffpunkt und Erinnerungsschwelgerei. Ich wollte Menschen treffen, die mir von ihrer Kindheit berichten, von geheimen Treffpunkten und Gründungsplätzen von Banden (gemeint ist damit eine solche, die aus drei bis x Kindern besteht und deren einziges Existenziel es ist, dass die Kinder das geheime Wissen um die Zugehörigkeit dieser Bande teilen. Pläne, andere zu verprügeln, zu belästigen oder Dinge zu zerstören, gab es gemeinhin nicht. Die pure, schönste Unschuld.). Auch – vor allem! – das aber hatte Corona uns genommen: Zweisamkeit.

An dieser Stelle: wie schrecklich für die Kinder und Jugendlichen, deren Momente der Bandengründung, der ersten geheimen Treffen, der Budenbauwochenenden, der ersten zarten Liebschaften, der Fußball- und Fahrradspiele von diesem Virus verhindert wurden. Wie viel Trost doch der eine oder andere Gedanke an diese schönen und sorgenfreien Momente der Kindheit spendet und Euch, die Ihr von diesem Virus in Euren Zimmern interniert worden seid, verwehrt bleiben. Oder anders aussehen. Wie viele von Euch werden später, wenn ich von den schönen Momenten in den Remscheider Wäldern erzähle, mit Oli, Carsten, Momo und Claudia; mit Jozo, Christian, Eva und Peter; mit Thomas, Stefan, Carsten und Rainer – wie viele von Euch werden dann zurückdenken und sich selbst, gelangweilt und verkümmert, in ihrem Zimmer sehen, aus dem Fenster blickend und sich vorstellend, wie schön das doch gewesen sein muss? Es tut mir im Herzen weh und ich fühle Euch so sehr!

Ich selbst holte mir meine einzige Kontaktperson an Bord, derer ich habhaft werden konnte: meine Frau Anna! Zu zweit also gingen wir die Straßen der Remscheider Innenstadt an und ab. Und wie offensichtlich das ein Weihnachtsfeiertag war, sah man, nein, nicht an Weihnachtsdeko oder dergleichen, sondern an: Tristesse.

Vielleicht ist das ein sehr persönlicher Eindruck. Es mag sicher Familien geben, bei denen das anders läuft, weil sie viel größer sind als meine Familie oder weil Weihnachten dort generell anders abläuft. Bei mir, mit Mama, Papa, Schwester und Omi, war Weihnachten ein leises Fest. Nun, „leise“ im Sinne von „wenig Leute“. Dass meine Schwester und ich nicht laut waren, werde ich niemals behaupten. Aber dennoch, wenn die Geschenke ausgepackt sind, aber immer noch ihren Reiz haben, sind die Kinder beschäftigt, zumal Dany (meine Schwester) und ich meistens ruhige Sachen geschenkt bekommen und damit in der Regel auch eher ruhig gespielt haben: Puppen, Actionfiguren, Lego, Bücher, Puzzles. Sehr klassisch. Und weil die Kinder versorgt waren, konnten auch die Eltern ihren liebsten Beschäftigungen nachgehen: Mama schaute gerne Wintersport, Omi auch, und beide haben gehandarbeitet. Papa war Funkamateur und hat sich in seinen „Check“, wie es genannt wurde, zurückgezogen. Heute würde man es „Man Cave“ nennen: Keller, vollgestellt mit Elektronik, die übrigen einstmals freien Flächen vollgestellt mit Elektronikteilen, dazwischen Zeitungen, Werkbänke, Werkzeug, ein völlig deplaziertes Weinregal und der Rest fällt unter „Sonstiges“. Kellerfläche vielleicht fünfunddreißig Quadratmeter. Begehbare Fläche vielleicht fünf Quadratmeter, davon zwei Quadratmeter Bürostuhl.

Papas „Check“ im Keller unseres Hauses. Rechts Reste des Karnevalmottos meiner Eltern Stammtisch:
„Die Grünen“ 😀

An einem Weihnachtsabend würde hier mein brandneuer Commodore C64 stehen…
Jedenfalls: Weihnachten hatte immer etwas von ruhiger Schwere. Von Phlegma. Niemand war hektisch, alle saßen herum und taten im Grunde nichts. Es lief keine Musik, es roch nach Kaffee oder Mittagessen und der Geschmack von Weihnachtsgebäck verzierte die Zunge. Und eben dieses Gefühl von nichts lag auch auf den Remscheider Straßen an diesem 26. Dezember, als wir sie begingen: kaum fahrende Autos, kaum Fußgänger, dazu eine graue, tiefe Wolkendecke, Kälte, Feuchtigkeit. Bonjour Tristesse.

Die Wanderung beginnt auf der Hochstraße gegenüber des Allee-Centers. In der Innenstadt von „Alt-Remscheid“ gibt es viele Straße, auch viele Nebenstraßen, da werde ich sicher mehr als drei Wanderungen benötigen, um alle abzulaufen und auch festzuhalten. Dabei, das zeigt bereits der Blick in die Sandkuhlstraße, besteht das hier gelegene Remscheid vor allem aus Behelfshäusern aus den spätern Vierzigern, frühen fünfziger Jahren, den Wirtschaftswunderjahren, als schneller Wohnraum benötigt wurde. Die Hässlichkeit Remscheids dürfte in diesem Straßenbild begründet liegen und sie ist auch nicht von der Hand zu weisen. Stuttgarter Straße und Waldstraße tun sich da nicht wirklich viel, jedoch zeigt sich hier trotzdem auch die Bipolarität Remscheids im Stadtbild: über unaufgeräumten, verlorenen Garagenhöfen trohnt dann auch der ansehnliche Waterbölles. Oder die Kaufmännische Schule. Man stelle sich vor, Remscheid hätte, wie der Rest der Welt Hitlers Wahnsinn nicht erleben müssen. Vermutlich wären die Straßen schöner.

Baustraße, Fachschulstraße und Christianstraße zeigen alle das gleiche Bild. Was muss Remscheid für ein Trümmerfeld gewesen sein! Erst der Weg in die Bökerswiese zeigt sowas wie architektonische Klasse, allein hervorgerufen durch neuere Bauten. Über die weiteren Straßen ist dann tatsächlich nicht viel mehr zu bereichten als immer nur das: Arbeiterhäuser oder Mehrfamilienhäuser, wenige Gründflächen, enge Straßen. Hier ist Remscheid wahrlich nicht schön und wenn man diese Straßen mit den vorherigen Wanderungen vergleicht, selbst mit dem Blumental, dann erscheint es mir kaum lebenswert. Aber natürlich, das ist ein persönlicher Eindruck eines privilegierten Jungen vom Bliedinghausen, der in einem eigenen Haus groß werden durfte, mit eigenem Garten. Ich bin mir der Arroganz meiner Gefühle bewusst und schäme mich auch etwas dafür, denn: wer sagt, dass hinter den ungeschminkten Fassaden nicht wunderschöne kleine Refugien warten? Das Buch sollte nicht nach dem Einband beurteilt werden.Die Schönheit findet sich außerdem zuweilen in kleinen Fundstücken am Straßenrand: abgestellte Gläser, deren Verzerrungen wunderschöne Lichtwellen schaffen; kleine Lokomotiven in einem Eisenring. Kreativ und mutig gestrichene Hausfassaden. Auch Skurrilitäten wie eine Tür einen Meter über Bodenniveau, aber ohne Treppe oder ein Kellerfenstergitter, dessen Fenster durch eine Mauer ersetzt wurde, ohne das Gitter zu entfernen.Schließlich laufen wir durch die Wilhelmstraße und nähern uns einem großen, geschieferten Bau: der Turnhalle der Schule Wilhelmstraße. Hier ereilen mich wieder Kindheitserinnerungen:Es war vielleicht 1985, da wurde ich (ob auf eigenen Wunsch, kann ich nicht mehr sagen) zum PSV geschickt, dem Polizeilichen Sportverein. Ich sollte oder wollte Badminton spielen. Trainer dort war der alte Freund der Familie, Peter Faber, Installateur mit eigenem Betrieb auf der Burger Straße. Seine Tochter Daniela und meine Schwester Daniela hatten sich angefreundet und darüber hatten sich auch meine Mama und Uschi wie Peter Faber angefreundet. Ich verbrachte ebenfalls einige schöne Stunden dort im Haus in der Burger Straße, das es auch noch gibt: in Fahrtrichtung Sana-Klinikum, hinter „Goll & Schracke“ (früher „Vent & Schubert“), gibt es eine kleine Einfahrt. Das Haus liegt längsseits dort. Ich blicke immer gerne hin, wenn ich dort entlang komme. Fabers allerdings wohnen dort schon lange nicht mehr.Auf dem Weg meiner persönlichen Entwicklung haben Fabers eine Rolle gespielt. Eigentlich eher die Großeltern, Oerder, die ein Haus am Struck bewohnten. Dieses war eines dieser typischen Industriellenvillen der Sechziger, siebziger Jahre – mit eigenem Pool! Der Rasen immer akkurat geschnitten, spielte das Haus die gesamte Klaviatur deutscher Spießigkeit. Aber: ein Pool. Und die Architektur des Hauses hat mich derart inspiriert, dass meine Legohäuser zukünftig auffallend häufig den gleichen Grundschnitt besaßen und ebenfalls nur eingeschossig waren.Nun, Peter war Trainer dort, nahm mich, verschüchtert, mit rein und platzierte mich auf den Platz. Ich spielte einfach nur mit, brachte fast jeden Ball zurück und kann mich an eine konkrete Situation erinnern: ich schlug einen Ball longline zurück, Peter musste sich strecken und rief erstaunt, noch während er schlug, aus: „Der schlägt sogar die Rückhand!“Ja, Badminton konnte ich. Leider haben mir fehlender Ehrgeiz und mangelnde Disziplin auch hier einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ich glaube, ich hätte durchaus höher spielen können. In der Zeit, in der ich hinging, habe ich zusammen mit meinem Freund Michael Trusheim dort gespielt, außerdem mit meinem Grundschulkameraden Sven Müller. Sven war immer beneidenswert cool, ließ sich scheinbar durch nichts aus der Ruhe bringen. Auch nicht durch Michaels ständige Sticheleien in alle Richtungen. Im Gegenteil: während ich mich selbst dagegen selten zur Wehr setzen konnte, ist das an Sven einfach abgeprallt. Ich habe ihn beneidet.Außerdem mit beim Badminton: der Sohn des eigentlichen Trainers, damals zwei oder drei Jahre älter. Leider hatte er es ein wenig auf mich abgesehen. Ich würde jetzt nicht direkt das Wort „Mobbing“ wählen, aber tendenziell ging es schon in diese Richtung – zumindest so lange, bis er merkte, dass ich eine zuverlässige Quelle für C64-Spiele war. Ab da war ich guter Kumpel. Wäre ich etwas abgeklärter gewesen, hätte ich nur weniger gemocht werden wollen, wäre mir das eine gute Lehre gewesen. So schreibe ich heute diese Zeilen, kann mich nicht mehr an des „School Bully’s“ Namen erinnern und hoffe, trotzdem etwas daraus gelernt zu haben.

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